Die Dreyfuß Saga

 

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Wir befinden uns im Jahre 1358 nach Fleischwerdung des HERRN.

Sechs bange Jahre ist es nunmehr her, daß der Schwarze Tod durchs Land zog und mit seiner Sense breite Schneisen in die Bevölkerung schlug. Nun ist er endlich müde geworden und das verbliebene Leben hat mählich wieder begonnen, alltäglich zu werden. Doch noch immer liegt so mancher Hof brach und viele Dörfer stehen wüst und verlassen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Immerhin verschwanden zugleich mit der Geißel der Pest auch die vielen Flagellanten, was von allen, die schon einmal einen Büßerzug auf ein hastig geschlossenes Stadttor haben zukommen sehen, nur als Göttliche Gnade empfunden werden kann.

König Karl, seit drei Jahren Kaiser gar, residiert fernab im sicheren Prag und überläßt das Regieren großenteils seinen Kurfürsten, die eigentlich auch nicht so recht wissen, wie sie den Zunftkämpfen oder der erstarkenden Hanse Einhalt gebieten sollen.

Im fernen Frankenlande streiten England und Burgund seit mehr als zwanzig Jahren um die Krone, und ein Ende der stets aufs Neu beginnenden Kämpfe ist nicht abzusehen.

Wenngleich auch der schöne Brauch der Kriegsführung in deutschen Landen augenblicklich etwas vernachlässigt wird, so kommt dennoch eine neue Sitte aus dem Frankenlande auch zu uns, die (wie vieles andere Fränkische auch) gerne aufgenommen wird: Als der Schwarze Tod dorten wütete, fand man die "Schuldigen" hierfür schnell in den Juden, welche darob mit wachsender Begeisterung blutig verfolgt wurden. Nicht, daß die Ärmsten wirklich einen nennenswerten Anteil an der Verbreitung der Seuche gehabt hätten. Ebensowenig boten die blutigen Greuel dem großen Sterben wirklich Einhalt. Aber verängstigten Menschen ist die Wut ist seit jeher ein willkommenes Mittel, sich für einige Augenblicke weniger hilflos und ausgeliefert zu fühlen. Und gemeinsame Wut und Rachegelüste galten schon immer fast so viel wie gesprochenes Recht. Wie ein dunkler Schatten folgte der Pestilenz des Leibes die Vergiftung der Herzen nach. Nun endlich ist die häßliche Unsitte, Juden zu ächten und wennmöglich alsbald zu entleiben, auch hierorts angekommen und erfreut sich, ganz in der glorreichen Tradition der Kreuzzüge, zunehmender Beliebtheit. Die Kurfürsten kümmert derlei nicht sehr, und der Oberste Hirte in Fragen christlicher Nächstenliebe ist in aller Unschuld mit häuslichen Problemen befaßt genug, als daß er sich denn noch um die zweitrangigen Belange von Juden, Heiden oder anderem Geschmeiß kümmern könnte.

Hoch über den Landen zieht des Nachts der Mond seine Bahn.

 

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Irgendwo in der weiten Brandenburger Mark, genauer gesagt am Rande des Warschau-Berliner Urstromtales, in dem sich die kleine Spree räkelt, noch genauer gesagt eine Meile Vogelfluges (und nahezu zwei Meilen irdischen Weges) nordwestlich der einander zänkisch begegnenden Städte Cölln und Berlin, also ziemlich genau dort, wo Fuchs und Hase sich 'Gute Nacht' sagen, dort also liegt auf dem letzten Ausläufer des Barnims haargenau zwischen dem Wege nach Tegel und dem nach Pankow und gänzlich unbeachtet von der 'großen Geschichte' seit grauer Vorzeit ein kleiner Flecken namens Reinickendorf. Benannt ist er nach Meister Reinicke, dem Fuchs. Den Hasen hatten die märkischen Bauern denn damals doch nicht zum Namenspatron erheben wollen. Hier wird Weid angebaut, es wird blaugefärbt, und seit vielen Jahren taucht im Rat der Gemeinde stets aufs Neue die brennende Frage auf, ob man sich vor den dünkelhaften Bürgern der südlichen Städte wohl besser als 'Hort der emsigen Weidbauern' oder lieber als 'Dorf der Kämmerer und Färber' (oder vielleicht besser Färber und Kämmerer?) bezeichnen sollte. Seit ungefähr ebenso vielen Jahren besteht die Einigung dann stets darin, sich stolz 'Reinickendorfer' zu nennen.

Am Rande dieses kleinen Dorfes wird im September diesen Jahres, gleich nachdem das Heu eingebracht, dem Bauern Isidor auf 'Reinickes Hag' ein Knabe geboren. Der Kleine ist des Bauern einzige Hoffnung, nachdem der Schwarze Engel seine erste Frau, alle drei Söhne und seine beiden nahezu hübschen Töchter dahingerafft hatte. Das Kind trägt nunmehr den Rang des Erstgeborenen und soll also dereinst den Hof übernehmen. Doch irgendwie bringt das kleine Kerlchen es selbst im Wiegenalter bereits zuwege, so gottserbämlich minderbemittelt aus der frisch gestärkten Wäsche herauszuschauen, daß der gesamten verbliebenen Familie bange Zweifel aufsteigen, ob dieses Häuflein Mensch hierzu jemals befähigt sein würde.

Noch bevor zur Taufe geschritten werden kann, kommen Fahrende vorbei. Jene nutzen die weniger empfohlenen Reisewege zur Vermeidung der Städte, was ihnen zwar einigen Unbill erspart, jedoch zuweilen auch wunderliche Ansinnen (für manch gutes Kupferstück) einträgt und überdies diese Wege vermehrt in Verruf bringt. Wohl niemand ließe sich trefflicher nach dem künftigen Schicksal des Kindes befragen. Das offenbar himmlische Zeichen solch unerwarteten Auftauchens von Fahrenden im rechten Augenblick darf keineswegs verachtet werden, denn derlei wäre einer Sünde gefährlich nahe. So schreitet denn Isidor nebst verbliebener Sippe und Gesinde (und einigen Kupferstücken) einer ungewissen Verheißung entgegen, die gewindelte Hoffnung des Hofes bang im anmutigen Arme seiner zweiten Angetrauten traulich geborgen.

Die ehrfurchtgebietend alte Wahrsagerin erblickt den jungen Knaben, lächelt, ergreift behutsam die Hände des Kindes, schaut und vertieft sich darein, verfärbt sich mählich -- und geht alsbald schon eilends zu den Ihren, ohne den ratlosen Eltern ihre Frage nach des Schicksals Ratschluß zu beantworten. Doch schon kurz drauf kehrt sie mit einigen anderen Zigeunerinnen zurück, die allesamt haltlos kichernd des Kindes Hände begutachten und sich dann wieder leise gackernd und eifrig tuschelnd entfernen. Schließlich kramt die Wahrsagerin ein kleines Amulett herfür, welches sie dem Kinde hastig in die Windel steckt, murmelt: "Bringt Glick, wird's brauchen." -- und enteilt, ohne ein weiteres Wort zu sagen, mit einem Ausdruck mühsam bezähmter Heiterkeit, welche die edle Würde des Alters nachgerade unziemlich überstrahlt. Andererseits versäumt sie es derweil, für ihre Dienste auch nur einen einzigen roten Heller zu verlangen, was die wundersame Heilswirkung des seltsamen Amulettes zu bekräftigen scheint.

So wird der Kleine am nächsten Sonntage denn sicherheitshalber auf den Namen Hugbald getauft (der gerade in Mode gekommene Name Hugbert schien denn doch zu gewagt), aufdaß der Name mit Gottes Gnade ein Wenig abfärbe und der Knabe zumindest auf diesem Wege ein Quentchen Witzes entwickeln möge.

Ferner kommt die Familie überein, es sei wohl sicherer, sich alsbald um weiteren Nachwuchs zu bemühen, aufdaß dem Hof ein würdiger Stammhalter gesichert sei. Niemandem ist das so recht wie dem Bauern Isidor, der ab dem Erntedankfest nun regelmäßig (und sich stets auf die Verantwortung für Reinickes Hag berufend) mit seinem jungen Weibe just das zelebrieren kann und darf, was die Ehe so erträglich macht.

 

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Die Jahre gehen ins Märkische Land, schauen sich hier und da ein wenig um und ziehen es dann vor, möglichst unauffällig zu verstreichen.

 

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Klein-Hugbald wächst heran und übertrifft spielend alle Erwartungen, die (Wachstum und Tölpelhaftigkeit betreffend) je an ihn gestellt wurden. Er wird der wahrlich 'große' Bruder zweier weiterer Söhne Isidors, was diesen sehr beruhigt. Im Jahre des Herrn 1369 dann, genauer gesagt am späten Abend des 20. Tages im Monat Juli, begegnet dem Knaben das Schicksal in höchstselbsteigener Person:

Hugbald sollte eigentlich den Esel füttern, welcher hochbetagt noch sein Gnadenbrot auf dem Hofe fristet, da ein satter Esel des Nachts bekanntlich weniger schreit. Doch der Knabe hat anderes im Sinn. Er bestaunt verzückt die runde Scheibe des vollen Mondes, welche an des Himmels Feste prangt und sehnt sich inniglich dort hinauf. So versäumt er es, den Scheffel am richtigen Ende des angepflockten Tieres abzustellen, was dieses ihm dergestalt dankt, daß es seine greisen Kräfte zusammennimmt, um des Knaben Wunsch stracks in die Tat umzusetzen.

Ein schwerer Hufschlag trifft Hugbald unversehens von hinten direkt in seine Afterballen, und schon hebt er an, die Erdenscheibe zu verlassen und der dunklen Kuppel des Firmamentes mit ungeahnter Schnelligkeit entgegenzustreben. So überrascht ist Hugbald, daß er völlig vergißt, Schmerz zu empfinden. Er spürt nur, wie er aufwärts strebt und sich mehr und mehr von der trauten Erde entfernt. Schon kann er über das Gesindehaus schauen, und eine Stimme in ihm sagt: 'So also schaut die Welt aus der Vögel Sicht aus. Wie mag unser Hof wohl vom Monde aus betrachtet ausschauen?'. Doch da drückt ihn eine unsichtbare Hand schon wieder herab und eröffnet ihm zu der erlebten Perspektive alsbald noch die Weltsicht der Maulwürfe: Kaum daß er den Boden berührt, wird es um ihn herum noch dunkler denn zuvor.

Als Hugbald wieder erwacht, findet er sich in seinem Bette liegend, das untere Ende seines Rückens schmerzt erheblich, sein Kopf dröhnt und irgendwie vollbringt seine Lagerstatt ganz und gar absonderliche Bewegungen, welche seinen Eingeweiden zutiefst mißbehagen. Durch das Fenster dringt das Licht eines neuen Tages, und Hugbald kann deutlich das Schreien des Esels vernehmen, welches einen ihm ungewohnten Beiklang enthält und dann jählings abbricht.

Mählich beginnt es in Hugbald zu dämmern. Hingerissen von diesem ungewohnten Schauspiel seiner inneren Natur hält er geschlossenen Auges andachtsvoll inne. Eine leise Stimme erscheint ihm, und er erkennt schaudernd, welche seltsame Tätigkeit er seit dem Beginn seines Mondfluges erstmalig eigenhäuptig vollbringt: Hugbald denkt. Gebannt lauscht er dem ungewohnten inneren Klang, der behutsam Wort um Wort und alsbald schon ganze Sätze formt.

Allmählich eröffnet der leisen inneren Stimme Schall ihm dies: 'Hoch war ich geflogen, sehr hoch. Bis zur Mondscheibe war ich geflogen, doch hat sie mich zurückgeworfen. Womöglich lag dies einzig daran, daß ich ihr meine verkehrte Seite zugewendet hatte. Nun, ich zöge es wohl auch vor, wenn neue Bekannte mir mit dem Antlitz voraus begegneten. So kann ich der Mondscheibe nicht gram sein, daß sie mich mit einem wohlgesetzten Tritte zurück nach Hause gesandt hat, wo ich besseres Benehmen erlernen könnte. Wenn es mir gelänge, noch einmal so hoch zu fliegen, wäre ich gewißlich nicht so dumm, ein zweites Mal mit dem Steiß voraus zu fliegen, so daß ich erneut anstieße und mir wiederum weh täte. Ich drehte mich zur rechten Zeit herum und hielte mich sicher am Rande fest. Dann bäte ich höflich um Vergebung, setzte mich vorsichtig darauf und schaute von dort hinab. So könnte ich sicher verweilen und in Ruhe ermessen, wie unser Hof vom Himmel besehen ausschaut, welche Federn der Habicht auf dem Rücken trägt und welcherart wir den Englein erscheinen. Hei, das will versucht sein!'

Inzwischen ist draußen eine milde Abenddämmerung hereingebrochen, und die leise Stimme in Hugbalds Kopf hat ihre lange Botschaft endlich beendet. Einige Zeit wartet der Knabe noch, ob der Klang erneut anhebt, dann strebt Hugbald eilends aus dem Bette heraus. Schon hat er, allen Schmerzen und einer wild torkelnden Treppe trotzend, hinkend den Hof durchquert, um sich erneut vom Esel treten zu lassen und einen neuerlichen Flug zu wagen.
Doch der Esel ist nicht mehr.

Seit jenem Tage, da der junge Hugbald von Reinickes Hag beinahe der erste Mensch auf dem Monde gewesen wäre, haben Wachstum und Tölpelhaftigkeit bei dem Knaben ein jähes Ende gefunden. Anstelle des bis dahin zu schnellen Wuchses ist nun ein stetig hinkender Gang verblieben und ein Stecken, welcher ihn stützt, ist sein treuer Begleiter geworden. Die Tölpelhaftigkeit ward abgelöst von Narretei. Seit jenem merkwürdigen Tage ist des Hugbalds Sinn kraus, sein Witz zerzaust und sein Denken wirr. Zwar denkt es endlich in seinem Innern, doch ist dies meist nur für Hugbald selbst ein Gewinn. Zu allem Überfluß ist er nunmehr fast täglich beim Pfarrer anzutreffen, wo er die schweren Arbeiten des Lesens und Schreibens erübt. Und dies ist, angesichts eines Pfarrers, welcher diese Künste leidlich beherrscht, und eines Küsters, welcher hierin ebenfalls etwas bewandert ist, bei Lichte besehen und genau betrachtet: völlig überflüssig.

 

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Die Jahre durcheilen das Märkische Land, da sie nicht erwarten, etwas zu vorzufinden, das ein Verweilen irgend lohnen könnte, und begnügen sich hierorts völlig damit, verstrichen zu sein.

 

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Schon schreiben wir das Jahr des Heils 1394.

Kaiser Karl ist schon lange bei seinen ruhmreichen Ahnen. Der neue Kaiser und König heißt Wenzel, und das Bemerkenswerteste an ihm ist wohl seine Krone. Er kümmert sich so beruhigend wenig um sein Reich, daß man ihn kaum bemerkt. So ist ihm denn auch nicht geläufig, daß die rheinischen Kurfürsten allmählich anheben, geduldig an seinem Throne zu sägen.

Im fernen Frankenlande streiten England und Burgund seit fast schon sechzig Jahren um die Krone, und ein Ende der stets aufs Neu beginnenden Kämpfe ist nicht abzusehen.

Der römischste aller Römer heißt inzwischen Bonifaz und der Heilige Stuhl steht wieder dort, wo er ursprünglich auch hingehört: in Rom. Dort schont der Nachfolger Petri seine Schäfchen vor Irritationen und zudem das Ansehen seiner Vorgänger, indem er von einer Änderung der 'Politik nicht stattfindender Intervention in Judenfragen' schlichtweg großzügig absieht.

Hoch über den Landen zieht des Nachts der Mond seine Bahn.

 

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Eigentlich ist bei den Menschen ansonsten alles beim Alten geblieben und nimmt seinen gewohnten Gang. Alles? Nein, nicht ganz alles. Ein kleiner Reinickendorfer Narr hört nicht auf, sich der Vernunft zu widersetzen und wider jedwelchen Stachel zu löcken.

Inzwischen wird Hugbald ob seines Steckens, auf welchen er sich stützt, von Allen nur noch 'Dreyfuß' gerufen. Die magere Haut des Esels, welcher den Knaben Hugbald zum Narren Dreyfuß wandelte, ward gegerbt worden und gereicht ihm nun zur Bekleidung. Des Tieres Ohren indes zieren des Narren Kappe. Der hohen Kunst des Lesens und Schreibens ist er seiner Eselskappe zum Trotze nunmehr mächtig genug, um oftmals mit jener Sorte Korrespondenz betraut zu werden, die mit den strengen Maßstäben der Heiligen Mutter Kirche nicht gänzlich in Einklang zu bringen wäre. Innerhalb der Kappe, tief hinter der Stirn, denkt die kleine Stimme noch immer, wenngleich auch oftmals wirr und selbst ihm zuweilen unverständlich, da der Stimme Worte bisweilen einfach wesentlich flinker schreiten als seine Füße. In diesen Fällen zieht er es vor, die gar zu eiligen Worte schlicht aus seinem Munde herauszulassen und sich vorzunehmen, daß er bei passender Gelegenheit mal hinterhergehen könnte, um zu schauen, wo sie denn hin wollten, und wie es ihnen nun wohl dort draußen ergehen mag.

Nun aber hat er es mit seiner Denkerei wohl doch zu arg getrieben.

Am jüngst vergangenen Karfreitage hatte der Herr Pastor, wie in jedem Jahre, das Wunder der Heiligen Wandlung beschrieben und eine höchst eindrucksvolle Predigt gehalten. Diese war so gut geraten, daß sie selbst einem tumben Narren wie Dreyfuß zweifelsfrei verdeutlichen mußte, wie bei diesem großen Wunder dank der Gnade des Herrn und pünktlich zum Glockenklang aus jenem zuvor schon vorgezeigten trockenen Gebäcke nunmehr der leibhaftige Heiland geworden sei. Dreyfuß, stets offen für das Wunderbare dieser Welt, hatte dies denn auch auf der Stelle innig geglaubt. Und dann hatte er die Teilnahme an der Heiligen Kommunnion mit der lautstark und heftig verkündeten Begründung verweigert, er wolle unseren lieben Herrn Jesus weder beißen noch zermalmen oder ihn gar im unteren Verlaufe seiner Innereien zu Sch... wandeln. Und außerdem könne er wahrlich nicht verstehen, weshalb ein ordentlicher Christenmensch angesichts eines solchen Wunders nicht zärtlichere Gesten im Umgang mit unserem Heiland fände, als ausgerechnet seine Zähne in den gebenedeiten Erlöser zu schlagen.

Es half nichts, daß der arme Pastor ihm eilends und leise tuschelnd zu erklären suchte, das Wunder der Heiligen Wandlung sei keineswegs mit dem Magen, sondern mit dem Herzen zu verstehen und zu glauben. Dreyfuß glaubte wunschgemäß tief und innig. Und er war nicht willens, auch nur den mindesten Teil seines gottgegebenen Leibes vom guten und heilbringenden Christenglauben auszuschließen. Erst recht nicht den Magen, durch den doch bekanntlich die Liebe geht. Als der geplagte Geistliche endlich begriff, was er da eben angerichtet hatte, blieb ihm nur, das fromme Kerlchen mit einem unauffälligen Kreuzschlag flink zu segnen und an seinen Platz zurückzuschicken. Immerhin galt es noch, eine halbe Gemeinde mit Christi Leib zu speisen und derweil zu hoffen, daß soeben niemand allzu genau zugehört hatte.

Nun kann der arme Narr zwar nicht wissen, daß er sich schwerer Ketzerei schuldig gemacht hat, indem er mit logischen Folgerungen das starke Gebäude des Christenglaubens gefährdet. Er hat auch keine Vorstellung davon, was die Inquisition sei, oder gar, daß er als törichter Narr mit lebenslanger Haft im Kerker bei Wasser und Brot noch ein eher mildes Urteil zu erwarten hätte, wenn sein Geschrei ruchbar würde. Doch dem Herrn Pastor ist alldies umso klarer. Und der Pfarrer weiß: Wenn die von Dreyfuß geäußerten Worte jemals über Reinickendorfs Grenzen drängen, wäre es mit der Beschaulichkeit im Dorfe auf längere Zeit vorbei. Auch seine eigene vorschnelle Antwort reut ihn alsbald, und er betet inständig zum Himmel, niemand möge seinen Vorschlag näher erwägen, daß Teile des Leibes vom Glauben befreit sein könnten. Dann nämlich fände das Heilige Officium alsbald nicht allein einen gläubigen Narren, sondern auch einen närrischen Geistlichen genauer nach dem Sinn gewisser Glaubenssätze zu befragen. Da Reinickendorfs Hirte nun die gesamte Tragweite seiner ansonsten wirklich wohlgeratenen Predigt aufgeht, ersinnt er zu des kleinen Kerlchens Schutze (und nicht gänzlich ohne eigenen Vorzug) eilends eine List.

Er ruft Dreyfuß am Ostersamstag zu sich und verkündet dem staunenden Narren, der liebe Gott habe Dreyfuß inzwischen so sehr liebgewonnen, daß dieser fortan weder zur Beichte noch zum Gottesdienste gehen brauche. Der Herr Jesus sei ihm (dem Herrn Pastor) in der vergangenen Nacht erschienen, um ihm zu sagen, Dreyfuß sei ganz gewiß dafür bestimmt, dereinst in den Himmel zu kommen. Das an Dreyfuß geschehene Zeichen, daran dies zu erkennen sei, habe der Heiland noch angefügt, sei aller Welt offenbar, da er ja mit Gottes Gnade als unschuldiges Kind schon höher geflogen sei denn je ein anderer Mensch zuvor oder nach ihm, und also schon beinahe im Himmelreich gewesen sei - wenngleich auch nicht mit schauenden Augen, sondern einem zum Erkennen eher ungeeigneten Körperteile. Dennoch müsse die Bedeutung dieses offenbaren Zeichens vor den Menschen verborgen bleiben, um der Himmlischen Unerfindlichkeit Genüge zu tun.

Überdies sei ohnehin alles gar nicht so einfach wie es scheine. An diese 'himmlische Aussicht' seien nämlich drei wahrlich schwere Bedingungen geknüpft. Zum Ersten bliebe die Zusage auf Dreyfußens dereinstige Aufnahme in das Himmelreich nur erhalten, sofern Dreyfuß keinem Menschen jemals davon berichtete. Immerhin stünde sonst zu befürchten, daß sich alle Frommen des Landes von Eseln treten ließen. Zweitens müsse Dreyfuß von nun an wandern und dürfe vom folgenden Pfingstfeste an niemals länger denn zwei volle Monde an einem Orte unter Menschen weilen. Wo er aber von Menschen umgeben sei, bestünde seine Aufgabe darin, diese froh zu machen. Dies, so habe der Heiland gesagt, sei eine notwendige Prüfung der Seele. Wenn er nicht dem Himmelreich entgegen wandern und Menschen erfreuen wollte, tauge Dreyfuß eben wohl doch nicht für die Ewige Seligkeit. Wann er jedoch dereinst zum Reisen und Ziehen wahrlich zu alt geworden sei, dürfe er sich allerdings in einer Einsiedelei niederlassen und darauf harren, daß der Himmel ihm den Rest des Weges entgegenkomme. Und zum Dritten dürfe Dreyfuß nimmermehr das Heilige Abendmahl noch die Firmelung noch ein anderes Sakrament erfahren, da derlei für die Gläubigen und die Sünder dieses irdischen Jammertales bereitet sei, nicht aber für jene, die der himmlischen Seligkeit derart sicher und gewiß sein könnten.

Wie zu erwarten, hat des Pfarresr Wort eine gewaltige Wirkung auf den kleinen Narren. Er erbittet sich einen kurzen Augenblick der Besinnung und versinkt in Schweigen. Aber schon nach wenigen Stunden ist er bereit, die drei Aufgaben des Himmels anzunehmen. Er erwirkt seines Vaters Segen, um in die Welt hinauszuziehen, vergibt leichten Herzens die Bürde seines Erstlingsrechtes an den nächsten Bruder, packt ein kleines Bündel und hinkt davon - dem aufgehenden Monde entgegen.

 

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So also kommt es, daß Hugbald von Reinickes Hag, beigenannt der Dreyfuß, seither wohlgemut durchs ganze Land wandert und stets anderenorts anzutreffen ist, um Menschen froh zu machen.

 

 

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Fußnoten
 
1Pest-Epidemie in Asien und Europa 1348 - 1352
2Massenwanderung von Menschen, die in emsiger Selbstpeinigung durch Geißelung und alle anderen Arten der Selbstkasteiung dem Himmel beständig Ihre Reue ezeigten, um so Gottes gnädige Vergebung der Sünden und damit das Heil des Landes hatten erwirken wollen. Oft genug waren sie es jedoch, die den Hauch des Todes selbst weitertrugen.
3Karl IV, deutscher König 1346 - 78, ab 1355 auch Kaiser
4aufgrund der 'Goldenen Bulle' (1356) die u.a. sowohl die Königswahl als auch die Vormachtstellung der sieben Kurfürsten regelt
5'Hundertjähriger Krieg': 1337 - 1453
6Papst Innozenz VI, Stellvertreter Christi 1352 - 62
7man übersetze den Namen des Hirten...
8immerhin ist gerade Avignon (Provence), und nicht etwa Rom, päpstliche Residenz (1309 - 77)
9als Kämmereidorf erstmals urkundlich erwähnt im Jahre 1344 a.D.
10Hugbald = ahd. 'hugu': Gedanke, Verstand, Geist, Sinn; + ahd. 'bald': kühn
11Hugbert = ahd. 'hugu': Gedanke, Verstand, Geist, Sinn; + ahd. 'beraht': glänzend
12König Wenzel regiert von 1378 bis 1400 - und wird von den vier rheinischen Kurfürsten einfach abgesetzt
13'Hundertjähriger Krieg': 1337 - 1453
14Papst Bonifazius IX, Stellvertreter Christi 1309 - 1404
15"der füße dreyen" - immerhin war das 'dritthe beyn' des Mannes schon damals als ein gänzlich anderes Körperteil wohlbekannt
16Der Anstand verbietet, das breiige Ergebnis volbrachter Verauungstätigkeit an dieser Stelle mit seiner volkstümlichen Bezeichnung zu benennen
17Inquisition: 1215 als Instanz bestätigte Einrichtung zur Ausrottung von Auffassungen, die mit der christlichen Lehrmeinung nicht übereinstimmen. Eine in Deutschland zunächst eher selten genutzte Einrichtung. Zu ihrer traurigen Berühmtheit kommt sie hier erst aufgrund der Bulle 'Summis desiderantis' (durch Papst Innozenz VIII, 1484) und des darauf aufbauenden 'Hexenhammers' (Malleus Maleficarum, 1487), welche Grundlage und 'juristisches' Regelwerk zu einer systematischen Hexenverfolgung bieten
18Heiliges Officium: siehe 'Inquisition'

 

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