Ansichten eines  fast  normalen Bürgers
Victor Hugbald im Gespräch mit hajo. Dreyfuß
 
Habemus Angie
 
ein Nachruf auf die
Bundestagswahl 2oo5
    Bundeswappen und Stimmzettel
Wir erinnern uns:
Ende Mai endete in Nordrhein-Westfalens Landtag die sozialdemokratische Ära. Die rot-grüne Regierung des Bundestages sah sich einem schwarz gestärktem Bundesrat gegenüber, der sich schon zuvor ausnehmend blockadefreudig gezeigt hatte. Das war zwar keine Überraschung. Dennoch war es ein Signal. Also bedeutete der Kanzler der großen Worte prompt mit kunstgeübter Geste: "So kann ich nicht arbeiten!" und warf den Kram hin. Natürlich nicht so, wie es normale Sterbliche täten. Kanzler pflegen hierzulande äußerst selten freiwillig zurückzutreten, ganze Regierungen neigen noch viel weniger dazu. Und doch löste sich hier eine Regierung, die mit ihren letzten beiden Wahlsiegen eigentlich nicht wirklich gerechnet hatte, dezent in demokratisches Wohlgefallen auf: Über eine erfolgreich "verlorene" Vertrauensfrage ebnete sie ordentlich den Weg zu Neuwahlen. Und einmal, ein einziges mal seit sieben Jahren, war die Opposition mit der Arbeit der Regierung zufrieden.
Mitte September dann kam mit der Ernte das große Abwählen. Aber es kam anders, als es Parteien und Demoskopen erwartet hatten. Nicht nur die rot-grüne Regierung wurde abgewählt. Auch die schwarz-gelbe Opposition, die sich bereits freudig auf barrierefreies "Durchregieren" eingestimmt hatte, bekam nicht genug Stimmen, um als Mehrheit zu regieren.
Mitte November endlich war es soweit: Erschöpft von Medienschlachten und langem, zähem Ringen um Posten und Positionen wurde mittels Vertrag zu einer ganz offiziellen großen Koalition die schwarz-rote Vernunft-und-Zweck-Ehe besiegelt. Und Deutschland begrüßte seine erste Bundeskanzlerin.
VH :Nun hat dieses unser Land also die erste Kanzlerin seiner Geschichte...
hajo. :... und passend zur Jahreszeit wird diese neue Obertan von der Untrigkeit im Lande etwa so herzlich begrüßt wie sie sich von ihr behandelt fühlt. Also mit eher novembriger Euphorie und sachlicher Distanz. Und?
VH :Man hat Dein Lästermaul schon zu geringeren Anlässen vernommen. Wieso schweigst Du ausgerechnet bei dieser Ansammlung allerschönster Vorlagen?
hajo. :Möchtest Du eine ehrliche Antwort?
VH :Wie immer.
hajo. :Das werte ich sicherheitshalber als Ja. Also, offen gesagt bin ich noch etwas erschöpft von der immerhin halbjährigen Polit-Posse, die bis eben noch anstelle eines ganzen Jahres taktischen Ausbremsens stattfand. Außerdem hatte ich nicht die mindeste Lust, auf die Bühne zu stürmen und meinen Kollegen in den Auftritt zu platzen... –
VH :Eine wahrhaft edle und löbliche Rücksichtnahme, die allerdings nicht eben zu Deinen berühmtesten Gewohnheiten zählt... –
hajo. :..., weil ich die Show in vollen Zügen genießen konnte. Diesertage fand ich es mal so richtig schön, als Zeitzeuge einfach nur goutierend zuzuschauen: mit wohltemperierter Lachmuskulatur, feinschmeckerischem Wohlbehagen und geradezu körperlichem Vergnügen.
VH :Höre ich recht? Das Land steckt in einer Regierungskrise, und Du amüsierst Dich?
hajo. :Nachgerade königlich. Und warum auch nicht? So ein köstliches Spektakel gab es schon lange nicht mehr.
VH :Läßt Du mich an Deiner Freude teilhaben? Was bittesehr erheitert Deinen Sinn?
hajo. :Angefangen hatte es ja schon, als der Kanzler im eben noch selbst geworfenen Handtuch einen Handschuh erschaute und diesen allzeit fehdebereit aufnahm. Als er sich vom lieblosen Herunterbeten schlaffer Parolen löste und mit vollen Segeln auf den Kirchhof zusteuerte, war mir klar: Der Mann hat schon etwas zuviel Wahlkampfer genossen. Sonst wäre ihm aufgefallen, daß des Experten Reform-Modell zwar durchaus radikal war – aber eben nur des Experten Steckenpferd, das selbst im eigenen Lager bereits milde als "Vision" niedergeschmeichelt wurde. Alle (außer Herrn Kirchhof) wußten: dieses praktische radikale Reform-Modell wird sich ganz bestimmt nicht durchsetzen. Folglich waren des Kanzlers utopische Beispiele, die heftige Polemik und die plakativen Plakate schlichtweg allerschönstes Schattenboxen.
VH :Hast Du denn noch nie von den Regeln des Wahlkampfes gehört?
hajo. :Na klar. Es gilt, sich selbst ins beste Licht zu rücken. Wenn der politische Gegner dabei weniger gut aussieht, gehört das ebenso dazu wie der feste Wille, zu gewinnen. – Aber hier war letzteres von der abgedankten Regierung doch gar nicht erwünscht. Wozu auch? Um wieder an genau der Stelle zu landen, wo der Kanzler eben noch alles hingeschmissen hatte? Und doch sahen wir einen siegeswilligen Streiter, der nun weit mehr wollte als eine möglichst knapp verlorene Wahl. Indes eine vermeintlich sichere Gewinnerin sich zu fein war, der Polemik die verdienten Grenzen zu stecken. Vielleicht war sie aber auch einfach nicht an die eigene Medizin gewöhnt. Dazu kam aus dem Freistaat, der schon einen Papst hervorgebracht hatte, christlich-kompetente Wahlhilfe für alle Parteien rötlicher Schattierung: Ausgerechnet der Landesvater, der dem Leichtmatrosen und der Frau aus den neuen Bundesländern kürzlich noch bescheinigt hatte, gar nicht regieren zu können, nun aber just mit diesen Beiden künftig gerne gemeinsam regieren wollte (vielleicht sogar in Berlin), dieser also war sich gewiß, die Wahl nicht von den Frustrierten und den Verlierern im Osten entscheiden lassen zu wollen. Also genau dem Gebiet, in dem ein ganzer Wahlkreis erst zwei Wochen später wählte.
 Insgesamt habe ich mich höchlich an einem Wahlkampf ergötzt, der sowohl von der SPD als auch der CDU/CSU nach allen Regeln der Schlammschlacht nahezu konsequent zugunsten des politischen Gegners geführt wurde.
VH :Dann kam, worauf ich ursprünglich das Gespräch bringen wollte. Die Wahl, die den sonst nicht eben für Anarchismus verdächtigen SPIEGEL titeln ließ: "Keine Macht für niemand".
hajo. :Und wieder ein Born heller Freude für mich. Vorher hatte ich mich ja noch etwas grämlich darüber ausgelassen, daß die Akteure sich nicht zu fein waren, Angst- und Bange-Machismus als Stilmittel zum Nachweis eigener Kompetenz zu verwenden. Aber dafür wurde ich reich entschädigt. Nicht zuletzt mit dem Gefühl dankbarer Schadenfreude angesichts der wirklich ungekünstelten Betroffenheit, als sich herausstellte, daß selbst der stärksten Partei gerade mal 27,4 Prozent aller Wahlberechtigten das Vertrauen ausgesprochen hatten... –
VH :Wende ich diese närrische Betrachtungsweise mal selbst an und frage mal, wer nicht gewählt wurde. Dann ergibt sich eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit gegen Rot/Grün. Und eine ebenso satte Zwei-Drittel-Mehrheit gegen Schwarz/Gelb. Mit einfachen Worten: Da wurde knallhart abgewählt. Nicht nur eine Regierung, die eine große "Reform" angekündigt hatte, aber anstelle neuer Wege nur eine halbherzige Kostenbremse meinte. Sondern auch eine Opposition, die genau dasselbe wollte und auch keine neuen Ziele zu bieten hatte. Von besseren ganz zu schweigen. Die große soziale Idee hinter den "großen Reformen" versteckt sich erfolgreich. Die Botschaft, die unsere Herzen erreicht, blieb aus. Ein edles gemeinsames Ziel, das unsere Hoffnungen weckt, unsere Kräfte mobilisiert und letztlich unsere Opferbereitschaft stärkt, wurde uns vorenthalten. Weil es so etwas nicht gab. Wirkliche Reformer wurden bislang erfolgreich ausgebremst und kaltgestellt. Der angepriesene neue Weg geht in die gewohnte Richtung: Neue Strophen des alten Liedes "Kosten sparen, Einnahmen steigern". Natürlich am liebsten bei denen, die weder durch Lobbyisten nerven noch auswandern.
 Abgewählt wurde eine Politik, die nicht aufgrund verschiedener Standpunkte und Sichtweisen zu unterschiedlichen verlockenden Auffassungen kommt, wie unsere Zukunft zu Aller Zufriedenheit gestaltet werden könne, sondern sich in praktizierter großer Koalition offensichtlich einig ist, auf wessen Kosten und in wessen Taschen sie wirtschaftet. Eine Politik, die ihren Bürgern für Herz und Verstand nichts zu bieten hat, sondern allein wirtschaftliche Fragen in den Mittelpunkt stellt. Abgewählt wurden Reformer ohne Vision, die es beim Reformieren offenkundig auf die Taschen der Bürger abgesehen haben. Sie haben geerntet, was sie gesät haben: Es wurde mit der Geldbörse gewählt... –
hajo. :(feixt)
Ehrlich, ich liebe es, wenn Du polemisch wirst, obwohl Du recht hast. Und dieses Pathos erst – hast Du Dir das von mir abgeguckt, oder bricht sich hier ein Naturtalent seine ungestüme Bahn?
VH :Äh. Ja. – Wolltest Du nicht eben noch etwas über Deine Freuden am Ergebnis der Wahl erzählen?
hajo. :Wonnen wäre wohl genauer. Erinnerst Du Dich an den Kanzler, der nach verlorener Wahl unbedingt Kanzler bleiben wollte? Der sich nicht zu schade war, dafür mit der bisherigen Tradition zu brechen und passend zum Zweck die gegnerische Fraktion ganz unschuldig als zwei ganz verschiedene Parteien zu erleben, nur um sich mit dieser kleinen Spitzfindigkeit als Chef der stärksten Partei zu gerieren? An den Kanzler, der den unerwartet geringen Stimmenverlust als Stimmengewinn betrachtete und (natürlich nur) davon so berauscht war, daß er den einzigen vernünftigen Umgang mit dem Wahlergebnis – eine große Koalition – vor allen Zuschauern ausdrücklich ausschloß?
VH :Der Eindruck, hier könne ein Staatsmann von Format mit Stil gegen eine kluge Frau verlieren und dabei Charme und Würde wahren, wurde zumindest mir eher suboptimal vermittelt.
hajo. :Ich hingegen verstand endlich, warum die Veranstaltung "Elefantenrunde" heißt.
VH :Die folgenden Wochen, bis denn auch ganz Dresden gewählt hatte, erfüllten das Land mit politischer Farbenlehre...
hajo. :Anläßlich dessen habe ich unterwegs das Wort "Affentanz" aufgeschnappt. Das reinste Dschungel-Camp. Dazu paßt auch prächtig das plakative (aber unauffällig abschwellende) Fauchen, mit dem sich die bisherigen Gegner dann umkreisten. Derweil verschliff sich die Aussprache oftgenutzter Worte. Da war schon mal von "Sandierung-Spräche" die Rede, und aus politisch berufenen Mündern drangen in die Mikrophone der Weltöffentlichkeit so schöne Klänge wie "große Kollision" (Westerwelle) oder gar "große Koition" (Schäuble). So wird der Politiker zum Poitiker. Ob er dann über den pointierenden Poetiker schließlich zum Poeten wird oder über den Poidiger zum Budiker verkommt, ist mir allerdings noch nicht zu Ohren gekommen...
VH :Könnte es sein, daß Du hier beim Abschweifen zufällig etwas ins Ablenken gerätst? Was hättest Du wohl gesagt, wenn die beiden größten Parteien sich spontan so flexibel gezeigt hätten, daß sie des Wählers Willen innerhalb zweier Wochen akzeptieren und notwendigerweise flugs ihre besten Kräfte zusammentun, um diesem Land eine arbeitsfähige Regierung zu verschaffen?
hajo. :Sagtest Du 'spontan'? Professionell wäre vielleicht angemessener. Das meine ich ebenso grammattisch wie politisch. Immerhin hatten die Beteiligten durchaus Übung. Die Agenda 2010 wurde bereits in faktischer großer Koalition erarbeitet und beschlossen, um nur mal ein bekanntes Beispiel von vielen zu nennen. Aber während man offiziell fremdelte, blieb dieses gelobte Land noch etliche Wochen unregiert, bis das halbe Jahr erreicht war. Andererseits gestatte ich mir angesichts der absehbaren Entwicklungen, die diese Monate nachträglich noch vergolden werden, bewußten Genuß. Und ich lenke gar nicht ab.
 Ob sich das allerdings auch von allen Teilnehmern der Sondierungs-, Koalitions-, Vor-, Neben- und Hauptverhandlungen so sagen läßt, wage ich zu bezweifeln. Schau Dir einfach mal an, wie schnell die Spitzenkräfte der neuen Regierung ganz entspannt und freundlich miteinander umgingen. Dafür, daß sie so verschiedener Meinung waren, daß sie einander mit beinahe jedem verbalen Mittel bekämpfen mußten, vertrugen sie sich erstaunlich flink.
VH :Jetzt hab' ich Dich! Bei dieser Zwickmühle können sie es Dir gar nicht recht machen. Nehmen sich die großen Lager die nötige Zeit zum Beschnuppern und solider Arbeit, sind sie unprofessionelle Trödler. Arbeiten sie professionell zusammen, riechst Du schon Verschwörung.
hajo. :Wirklich ganz zu Unrecht? Was passierte denn da wochenlang? Da ging es zunächst natürlich um Kompetenzen. Das ist ganz unverdächtig, schließlich sollte jegliches Ressort zum Wohle des Volkes so kompetent und sachkundig wie möglich besetzt sein. Angesichts dessen, daß die Einen sich aufs Durchregieren, die Anderen auf Opposition eingestellt hatten, ist auch das emsige innerparteiliche Stühlerücken damit auch noch erklärlich... –
VH :Das würde ich sogar von den offenkundigen Grabenkämpfen in der SPD sagen, zumal die in der "Mitte-Rechts-Position" mit der CDU regieren will, während ihr deshalb "links" empfindlich viele Wähler und Mitglieder abhanden kommen... –
hajo. :... –, und auch, daß Ähdmund der Bissige ohne seine rote Lieblingssocke Heimweh bekam und mit seiner Rückkehr unter den blauweißen Himmel die Waage zünftig ausglich, sollte nur tiefes menschliches Verständnis auslösen. Aber während wir beim Zuschauen den deutlichen Eindruck gewannen, anläßlich des demokratisch notwendigen Zusammenschlusses sei allen Beteiligten das Hemd näher als der Rock, Posten kämen vor Politik und Macht vor Machen, geriet das Wesentliche erfolgreich aus dem Blickfeld. Du hast es ja gerade trefflich belegt.
VH :Ach. Was wäre denn Deiner Meinung nach das Wesentliche?
hajo. :Dort bildete sich eine Regierung aus Parteien, die jeweils zwei Drittel der Wahlberechtigten nicht gewählt haben. Gemeinsam können sie sich immerhin auf eine gute Hälfte berufen, was nach den Regeln der Demokratie genügt: Mehrheit ist Mehrheit, sagt das Kanzlerwort. Dennoch ist die Grundlage dieses Geschehens nicht eben das Vertrauen, das den Beteiligten für die nächsten Jahre geliehen wurde.
VH :Also eine Minderheitenregierung auf Mißtrauensbasis? Wolltest Du das sagen?
hajo. :Ich gehe noch weiter. Diese Regierung wird das in sie gesetzte Mißtrauen erfüllen. Gerechterweise sollte gesagt werden, daß sie gar nicht anders kann, wenn sie beispielsweise die Probleme des Staats-Haushalts lösen will, die von den jetzt beteiligten Parteien gemeinsam in den letzten drei Jahrzehnten sehenden Auges gemeinsam angehäuft wurden. Wer immer jetzt regiert, hat hier eigentlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Eine Möglichkeit ist, den Fehlentwicklungen endlich mal massiv entgegenzusteuern, also drastisch bei den Ausgaben zu sparen, alte Geschenke aus besseren Tagen zurückzunehmen, zudem gleichzeitig die Steuern zu erhöhen und neue Abgaben zu erfinden. Der Staatshaushalt ist ja noch zu retten. Aber das schafft nicht nur Freunde.
VH :Wie es scheint, haben die künftig Regierenden ihre Wahl bereits getroffen. Zumindest erwarte ich keine Überraschungen bei der Frage, wem genommen und wem gegeben wird...
hajo. :Dann müßte Dich die "Reichensteuer" verdattern...
VH :Wäre es nicht eigentlich Dein Part, diese jetzt als "kosmetisch" zu entlarven? – Aber Du wolltest mir ja noch erklären, welche anderen Möglichkeiten unserer Regierung theoretisch noch bleiben.
hajo. :Eine andere – weit verlockendere – Möglichkeit wäre, mit Blick auf die nächste Wahl so zu tun als ob nichts sei, den Notstand notdürftig zu verwalten, einander dabei hübsche werbewirksame Scheingefechte zu liefern, derweil das wenige restliche Tafelsilber zu verscherbeln, sowie natürlich die Zukunft aller Bürger an private Investoren zu verpfänden. Das allerdings bliebe ganz sicher nicht unbemerkt, und Dank dafür ist auch nicht gewiß. Beide Varianten machen Unzufriedene sehr empfänglich für Kräfte, deren besonderes Talent darin besteht, lautstark Forderungen zu stellen.
VH :Während ich befürchte, daß die Obwalter des von allen erwirtschafteten Zasters eine möglichst unselige Kombination der von Dir angebotenen Alternativen anstreben, scheinst Du eher die Zwickmühle zu favorisieren. Wie wäre es bitte mal mit einem Mittelweg? Er müßte ja nicht golden sein.
hajo. :Was Du ersehnst, verlangt etwas, das ich bei unseren demokratisch gewählten Repräsentanten derzeit ebensowenig sehe wie in der mündigen Staatsbürger Sinn. Du hast es vorhin so schön gesagt: eine Vision. Eine Melodie, die zum Rhythmus der Zeit paßt. Ohne ein "großes Ziel" ist weder zu erklären noch einzusehen, welchen Sinn es habe, das Sparen dem regierten Volk zu überlassen und großzügig an der Bürger Opferwillen zu appellieren, während gleichzeitig ein gewissenloser Kapitalismus fettgefüttert wird, der Arbeit nur als Kostenfaktor sieht, den autistischen Regeln des Marktes folgt und Europa als "Monopoly for Global Players" behandelt. Politik, die das weiß und ein Land nicht führt, sondern verwaltet, wird schnell bedeutungslos und gerät auf dem Weg dorthin alsbald zur Marionette im Spiegelkabinett.
 Was also gebraucht wird, ist eine gute Idee, wie es künftig in diesem schönen Kernland Europas zugehen soll. Daraus ergäbe sich schnell mehr als nur ein Weg in diese Richtung. Unsere Regierung kann und soll Gesetze so gestalten, daß die Regierten hier gerne zu Hause sind, weil soziale Gerechtigkeit — und damit der soziale Frieden — nach Kräften bewahrt wird. Aber das ist offenbar etwas viel verlangt, solch eine Vision gehört ins Reich der Utopie, ist Schwärmerei und Narrentraum. Das bestmögliche ist derzeit, so scheint's, der zwielichtige Appell "Du bist Deutschland". Das Credo der Herausgeber des Werbeslogans findet sich denn auch deckungsgleich im Koalitionsvertrag wieder: Wachstum durch Innovation, Wettbewerb, und so weiter. Gleichzeitig verdient das für einfache Bürger sichtbare Verhalten ihrer parlamentarischen Vertreter nur wenig das Prädikat 'Vorbild-Charakter'. Das freundliche Wort 'Volksnähe' trifft es wohl eher.
VH :Das klingt bitter... –
hajo. :Wer hat denn hier von Politik angefangen?
VH :Ich wollte eigentlich fragen, wohin denn bitte Deine anfängliche Heiterkeit verschwunden sei.
hajo. :Die ist ungebrochen.
VH :Und warum bemerke ich sie nicht?
hajo. :Weil Du in die falsche Richtung schaust.
VH :(ist sprachlos)
hajo. :Dabei habe ich extra Dir zuliebe schon das Spiegelkabinett erwähnt.
VH :(ist ratlos)
hajo. :Schau: Ein grausames Sprichwort besagt, jedes Volk wähle sich die Regierung, die es verdient.
VH :(ist nicht amüsiert)
hajo. :Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es gibt da noch die andere Richtung. Zwar bringen Regierungen nicht die Völker hervor, die sie verdienen. Aber ihr Tun verschafft ihnen angemessenen Lohn: Wer Haß sät, erntet Haß und geht schließlich daran zugrunde. Wer Macht will, wird von Mächtigeren vertrieben. Gier macht unvorsichtig und besiegelt selbst ihr Verderben. Hochmut kommt vor dem Fall (und das galt schon vor der Erfindung des Hubschraubers). Gleichgültigkeit erzeugt Desinteresse. Und so weiter.
VH :(sarkastisch)
Ja bitte: weiter. Da fehlen doch noch ein paar positive, aufbauende Kalenderweisheiten, findest Du nicht?
hajo. :Na also, Deine gute Laune zeigt ja schon wieder ihre Nasenspitze. Gut, weiter im Text: Wer es mit anderen gut meint, wird damit allein nicht weit kommen. Weder in der Politik noch in der Wirtschaft. Aber deshalb bleiben menschenfreundliche Anwandlungen nicht unbemerkt. Sie erzeugen Respekt und Achtung – was sich auch in Wählerstimmen ausdrückt – bis hin zur Verehrung.
VH :Fein. Und?
hajo. :Nun sind auch unsere gewählten Leit- und Vorbilder, denen wir zumuten, unser Land zu unserer Zufriedenheit regeln zu sollen, auch nur Menschen aus Fleisch und Blut. Und so hübsch Geld und Macht zuweilen auch sein mögen, gegen die Wunderwirkung der Anerkennung können diese beiden nicht anstinken.
VH :Hm. Wenn Du es sagst. Und wo ist die Pointe?
hajo. :Jetzt hast Du aber nicht aufgepaßt. Dann mußt es eben selbst herausfinden.
VH :Äh... Wie bitte?
hajo. :(geduldig)
Schau doch einfach mal hin. Lasse vor Deinem geistigen Auge noch einmal die Zeit von Mai bis November Revue passieren und beschränke Deinen Blick auf die bunte politische Bühne. Schau sie Dir mal etwas genauer an. Bist Du soweit? Gut.
 Die Handlung auf der Bühne ist inzwischen bekannt. Das macht es leichter, mal weniger darauf zu schauen, was jemand tut, sondern wie. Frage doch einfach mal, warum. Ein paar mögliche Gründe habe ich eben schon genannt. Wenn Dir etwas auffällt, das nicht nach pragmatischer Lösung oder zumindest diplomatischem Lösungsversuch anstehender Fragen aussieht, empfehle ich die Vorstellung kleiner farbiger Flicken. Die kann man den Akteuren im Geiste ganz schmerzlos anheften, und sie bemerken es nicht einmal. Verteile für jede Aktion solch einen Flicken. Für die vermuteten eigentlichen Wünsche und Gründe empfehle ich symbolische Farben nach eigenem Geschmack. Das erleichtert den Überblick immens. Und während Du noch überlegst, warum jemand so und nicht anders handelt, kommt meist schon eine passende Reaktion von anderswo - und natürlich auch meist ein Farbtupfer mehr auf die Bühne.
 Bei alldem vergiß bitte nicht: Was wir da zu sehen bekommen, ist nur ganz selten mal ein Zipfelchen echter großer Politik. Die findet in Ausschüssen, bei Geschäftsessen und in Hinterzimmern statt und verbirgt ihr eigentliches Tun hinter einem dichten Dickicht aus Verwaltungsakten. Was uns gezeigt wird, ist überwiegend Rezitation auf einer Bühne. Auch die feinen Fädchen und bunten Spiegel gehören zur Show. Lehne Dich zurück, entspanne Dich. Genieße die Darbietung. Einzelne versehentliche Ausrutscher und Versprecher, vertauschte Bärte, verrutschte Perrücken und hastiges Make-Up machen für den Kenner erst den Reiz.
 Das Stück heißt "Der Legislator". Zur Handlung verrät das Programmheft nur soviel: "Die Abwägung von Landeswohl, Parteitaktik und Machtpoker birgt viele Bremsklötzchen. Deswegen werden einige wichtige Fragen dieses zeitgenössischen Stückes bis zur nächsten Aufführung ungeklärt bleiben. Und mindestens ein Zankapfel wird uns genau deshalb auch erhalten bleiben. Möglicherweise auch ein Apfel pro Akteur." Aber ich verspreche Dir, daß es natürlich nicht ohne emsige Lobbyisten, kleinliche Machtkämpfe, peinliche Eitelkeiten, spannende Schaukämpfe, verbale Entgleisungen, wahre Größe, falsches Pathos und mindestens einen handfesten Skandal abgehen wird. An Unterhaltung wird es nicht mangeln. Außerdem sind die Mitwirkenden sehr motiviert, sich für die Besetzung im nächsten Stück zu profilieren.
 Sollte ich noch erwähnen, für wen die emsigen Akteure dort sich so mühen und plagen? Natürlich auch für sich, sie spielen sich selbst, unter wechselnder Regie mit großem Einsatz. Manche gehen in ihrer Rolle so sehr auf, daß sie selbst schon glauben, was sie da tun. Für etwas Geld, in der Hoffnung auf großen Ruhm. Auf der politischen Bühne. Und wie wir vergessen sie manchmal, was sie da tun, wo es tun und für wen sie auftreten: Für das Publikum. Für Deutschland. Für Dich. Du bist Deutschland. Genieße es. Schau hin. Sie spielen für Dich.
VH :(gehorcht mit sinkendem Widerwillen.
Nach einer Weile murmelt er selig)
:

Harlekine. Lauter bunte Harlekine...
November 2005