Ansichten eines  fast  normalen Bürgers
ein Hirnlüftchen von hajo. Dreyfuß
 
Blitzlicht
 
6. September 05
Die Kulisse
Sieben Jahre lang hat sich eine rot-grüne Regierung gemüht, die Fehler ihrer Vorgänger auszubügeln und möglichst viele eigene zu machen.
Der Rückblick richtet sich auf den Sprachgebrauch:
Wenn wir "sozialdemokratisch" hörten, war damit die "Politik der neuen Mitte" gemeint. Die Mitte befindet sich bekanntlich von links betrachtet rechts, und so wurde der so genannte Mittelstand bis in die höchsten Schichten hofiert – bis sich die CSU als soziales Gewissen der SPD meldete. Nach diesem (Heu-)Schrecken nun tendiert das Pendel wieder zu altgewohnten Positionen.
Hörten wir "grün", verband sich damit die "Realpolitik" jener, denen die Gnade der späten Geburt den Marsch durch die Institutionen erspart hatte. Diese bestand vornehmlich darin, ursprünglich gute Ideen mit allen unlogischen Einschränkungen, Fährnissen, Widrigkeiten, Bürokratismen und Paradoxien zu versehen, die wir von Staatsapparaten gewohnt sind – bis von der guten Idee immerhin noch ein medienwirksames Schlagwort übrig blieb.
In dieser Zeit lernten wir Worte wie "Globalisierung", "Outsourcing", "Agenda", "Hartzvier", "Briefkasten-Optimierung", "Bündnisfürarbeit", "Jobgipfel", "Ausbildungspakt", "Agentur" und "Jobcenter" kennen, und "Montags-Demo" bekam endlich eine gesamtdeutsche Dimension.
Doch genug der romantischen Rückschau.
Die Szenerie
Diesertage wird allgemein erwartet, daß diese Ära in ein paar Tagen beendet sein wird. Die Opposition sieht sich bereits als strahlender Gewinner der kommenden Wahlen, was sich gestern im Vermittlungsausschuß besonders deutlich zeigte. Es dauerte keine halbe Stunde, und schon waren zehn von elf rot-grünen Gesetzentwürfen erledigt. Hier wurde der Noch-Regierung knapp und kompromißlos gezeigt, wer in diesem Land schon jetzt das Sagen hat: Christlich-liberal ertönte ein zehnfaches "Nein." Fertig.
Nun besteht erfolgreiche Opppositionsarbeit bekanntlich auch darin, Regierungsvorhaben im Vermittlungsausschuß (hinter verschlossenen Türen, leise und diskret) vor die Wand laufen zu lassen – um hernach öffentlich den Vorwurf zu erheben, die Regierung habe nichts gegen Mißstände unternommen. Das löst zwar kein Problem, aber immerhin steht der politische Gegner schlecht da. Den ersten Schritt dieser Übung hat die Opposition mit Bravour vollzogen. Auf ein paar "kleine Nebenwirkungen" sei dennoch hingewiesen.
• Eine etwas längere Zahlung von Arbeitslosengeld an ältere Arbeitnehmer (die viele Jahrzehnte lang in die Arbeitslosen-"Versicherung" eingezahlt hatten und nun aufgrund ihres Alters wohl keinen Job mehr bekommen werden) bleibt eine schöne Utopie.
Merke: Vor Gott und Gesetz sind alle Menschen gleich. Naja, fast:
• Benachteiligung oder gar Anfeindung von Menschen, die "anders" sind, darf in einer aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz haben. Diskriminierungen wegen Herkunft, Rasse, Geschlecht, Behinderung, Alter oder privaten Angelegenheiten wie sexuellen Vorlieben oder der Weltanschauung sind schlicht und ergreifend abzulehnen. Das sagt auch die Opposition – verweigert aber ausdrücklich die Zustimmung zu einem Gesetz, das aus einem medienwirksamen Lippenbekenntnis einklagbares Recht (inclusive Strafen und Schadenersatz) machen würde. Und schachert um Merkmale und Anwendungsgebiete, als gälte es, ein angestammtes Recht zum Ausgrenzen und Niedermachen zu verteidigen.
Mögen Frauen und Behinderte hierzulande im Berufsleben auch einen gewissen Schutz genießen – einer unverblümten Diskriminierung von Fremden, Weibern, Greisen, Krüppeln, Lesben und Heiden steht weiterhin nur das Gebot christlicher Nächstenliebe entgegen.
• Last not least ist die Regierung wieder einmal daran gehindert worden, den regelmäßig lautstark geforderten Subventions-Abbau wirklich vorzunehmen. Nachdem längst geklärt ist, daß Subventionen für Unternehmer ohnehin tabu sind und zum Sparen also nur die bescheidenen Vorteile einfacher Bürger in Frage kämen, ist der einzige lohnende Brocken – die Abschaffung der Eigenheimzulage – wieder einmal vom Tisch. Nicht etwa, daß hier plötzlich und unerwartet die Nächstenliebe zugeschlagen hätte: Diese Streichung möchte die jetzige Opposition eigenhändig durchführen. Schließlich hat man mit dem Zaster andere Pläne.
Das eröffnet den Ausblick auf die nähere Zukunft.
Die Perspektive
Es bleibt (auch sprachlich) spannend.
• Das erste neue Wort seit Einführung des "Wechsels" in den Wahlkampf heißt "Kompetenz-Team". Es ersetzt das alte Wort "Schatten-Kabinett" und meint das Einkaufen und Ruhigstellen populärer Querdenker.
• Der Bio-Bauer, dessen Felder plötzlich "GenFood" tragen, braucht sich wegen des entstandenen Schadens nicht an den wenden, dem er den Schaden verdankt (also den lieben Nachbarn oder den armen Hersteller), sondern an den Staat – wo eine Behörde karge Steuermittel verwaltet.
• Mit "embryonalen Stammzellen" forscht man nicht: Menschliches Leben bleibt in jedem körperlichen Stadium heilig. Medizinische Forschung ist an dieser Stelle folglich immer Sünde. Was nach erfolgreicher künstlicher Befruchtung noch übrig ist, erhält dennoch kein christliches Begräbnis.
• Wo aus christlichen Regierungskreisen das Wort "sozial" erklingt, ist damit weiterhin Geld gemeint. Mit Vorliebe das Geld, das von den Vertretern des Volkes verwaltet wird. Entweder soll weniger davon ausgezahlt werden – oder die Bürger sollen mehr einzahlen.
• Wo aus liberalen Regierungskreisen das Wort "Freiheit" erklingt, geht es um Befreiung der wirtschaftlich Starken von Verantwortung oder anderen störenden Einschränkungen. Und natürlich die Freiheit, allein zum eigenen Vorteil zu handeln – und den Erlös ins Ausland zu transferieren. "Wettbewerb" bezeichnet die Fähigkeit zur Nutzung der Ellenbogen, weist aber immerhin indirekt darauf hin, daß es hier auch Verlierer gibt.
 
Der Blick in die Kristallkugel
Die behaglichen Jahre sind für Normalsterbliche in Deutschland vorbei. Für manche mag es beruhigend sein, daß das Prinzip "Wer hat, dem wird gegeben" hierzulande bestehen bleibt. Und auch künftig gilt, daß die Reichen reicher werden. Nur werden inzwischen die Armen nicht mehr automatisch ebenfalls reicher: Sie erhalten ihren angestammten Platz zurück. Irgendjemand muß ja schließlich die Zeche bezahlen. Diese Entwicklung wird den Worten "oben" und "unten" langfristig wieder tiefere Bedeutung verleihen. Praktische Einrichtungen wie Kindergartenbeitrag, Schulgeld und Studiengebühren werden helfen, dies zu vertiefen und in vielen Bereichen den Weg zu ebnen: zurück zum "Lehrgeld" und zu guten, alten Werten, wie sie noch vor rund hundert Jahren herrschten.
Die Verhältnisse allerdings werden in mindestens einem Punkt anders sein.
Eine offene Frage
Wie wollen wir damit umgehen, in einem reichen Land zu leben, in dem ein Viertel der Bevölkerung die bezahlbare Arbeit erledigen kann?
6. September 2005